Lebensenergie

Dass es kulturelle Unterschiede in den Bräuchen und Wahrnehmungen gibt, ist nichts Ungewöhnliches. Das offensichtlichste ist wohl die unterschiedliche Kleidung in unterschiedlichen Kulturkreisen, das delikateste vermutlich die Einstellung bezüglich Familienplanung.


Auf einer morgendlichen Visite traf ich auf einen bewusstlosen, etwa 50-jährigen Patienten, der mit Sauerstoff behandelt wurde. Dies ist ein aussergewöhnliches Bild, da die Installation der wenigen Sauerstoffkonzentratoren eher aufwendig ist. Ausserdem funktionieren diese Geräte nur mit Netzstrom und sind nicht über die Solar-Anlage zusätzlich abgesichert. Ein Stromausfall gibt einem kritisch Kranken dann leicht den Rest.


Die Aufnahme-Diagnose orientierte sich an der vorbekannten Anamnese und lautete auf Alkoholintoxikation. Der Patient war mehr als einen Tag zuvor bewusstlos aufgefunden worden, was prognostisch nicht ideal ist. Zum Zeitpunkt der Visite war er GCS 6-7 (angedeutete Lokalisation auf intensive Schmerzreize), hatte mittelweite isocore Pupillen und zeigte einen eindrücklichen Meningismus. Die passive Beugbarkeit des Nackens betrug etwa 10% mit hartem Anschlag, bei der Hüftbeugung waren es beidseits etwa 20%. Bei dem Verdacht auf eine Meningitis verordnete ich dem Patienten Ceftriaxon und Dexamethason. Ausserdem machte ich mir Gedanken über die Durchführung einer Lumbalpunktion zur Liquorgewinnung, wie ich sie in Europa zügig angestrebt hätte.


Ich zog einen lokal erfahrenen ärztlichen Kollegen zu Rate, der hinsichtlich Lumbalpunktion eher zurückhaltend war. In der lokalen Bevölkerung sei der Glaube verbreitet, dass im Liquor die Lebensenergie eines Menschen gebündelt sei. Diese Ansicht werde auch von den meisten Naturheilern und „Whitch Doctors“ verbreitet. Man befürchte daher, dass einem Kranken bei der Abnahme von Liquor auch die Lebensenergie entzogen werde. Man müsse eine Lumbalpunktion daher solide mit der Familie vorbesprechen und sich deren expliziten Einverständnisses versichern. Zu diesem Zweck nahmen wir den Patienten gemeinsam in Augenschein, wo er mir klar mit der folgenden Argumentation von der Empfehlung einer Punktion abriet: „Wenn ein Patient hier wegen einer Mengitis so schwer krank wird, dass er bewusstlos wird, wacht er nicht mehr auf. Unabhängig davon, was man tut. Wenn man ihn jetzt lumbal punktieren würde, würde es danach heissen, vorher ging es ihm noch gut, er konnte sogar selbst atmen. Aber dann kam der Arzt und hat ihm die Lebensenergie entzogen…“

Das Foto zeigt einen repräsentativen Blick in einen der Innenhöfe des Spitals.

2 Gedanken zu „Lebensenergie“

  1. Hallo ihr Drei.
    Mir wünsched eu alles Gueti.
    Chömed wider gsund zruck .
    Gruess Markus vom Tauchclub

  2. Lebensenergie 🙂 Ich hoffe ihr könnt durch eure Erfahrungen auch ganz viel Energie umsetzen & gewinnen!
    Das Vorgehen bei euch gleicht einer Triage was überhaupt „Sinn“ macht mit den Verfügbaren Ressourcen … eine Sache die hier kaum mehr praktiziert wird 😉
    Mega interessant von euch zu lesen!

    Hebäd Sorg, Grüässli

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